Les périphériques vous parlent N° 2
HERBST 1994
S. 26-27
deutsch
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 Die Zusammenhänge der Krise 

Camille Cotte Porträt von Camille Cotte in einem Gemälde von Vasari

9. Lebensziele, Bedürfnisse und Wünsche

Marktgebundene Bedürfnisse haben allmählich eine Abhängigkeit geschaffen, die den Menschen zu einem simplen Konsumenten abstempeln. Die Krise ist nicht nur eine Produktionsentwicklungskrise, sie ist auch die Krise des Konsummenschen. Der Mensch gibt sich nicht mehr mit Konsumaktivität zufrieden. Immer mehr Konsumenten spüren konfus, dass die Befriedigung der Massenkonsumbedürfnisse ein Leben nicht mehr erfüllen kann.

Wir stellen dieses Kapitel über „Lebensziele” nicht ohne Skrupel vor. Die Frage der Bedürfnisse und Wünsche stellt sich hier mit Autorität. Die erste Schwierigkeit ist, dass Philosophie und analytische Reden das Feld des Wunsches und des Bedürfnisses schon reichlich bearbeitet haben. Und auf keinen Fall wollen wir uns auf theoretische Debatten einlassen, die im Übrigen noch lange nicht beendet sind. Stattdessen haben wir versucht, unsere Beobachtungen auf den im weiten Sinne politischen und sozialen Bereich zu beschränken. Es handelt sich zunächst darum, ihren Einfluss auf den sozialen Bereich im Rahmen der aktuellen Krise zu untersuchen, und weiterhin, zu erfassen, welchen Gebrauch wir von ihnen auf der politischen Ebene erwarten können.

In diesem ganzen Text haben wir gesagt, dass die Umwälzungen, die Arbeitswelt, sozialen Bereich und das Verhalten der Individuen berühren, dazu aufrufen, das Leben vollständig zu ändern. Von daher braucht man Lebensziele.

Wir sind uns wohl darüber bewusst, dass die Frage der Lebensziele ein dorniges Unternehmen ist. Die Gesellschaft, die sich im Laufe dieses Jahrhunderts aufgebaut hat, hat Schritt für Schritt zahlreiche Bedürfnisse erzeugt. Die Werbung hat sich der Produktionsbewegung zur Seite gestellt, um die Marktausweitung sicherzustellen. Durch verschiedene Werbungsformen, Bestseller-Literatur, kommerzielle Filme, Radiosendungen und schließlich die allgemeine Verbreitung des Fernsehens hat die gleichgeschaltete Medieninformation tagtäglich Idealbilder verbreitet. Dieses faszinierende Bilderspektakel hat Massenbedürfnisse erzeugt und genährt. Diese Bedürfnisse wurden ständig erneuert und trieben so einen Jeden in „Abhängigkeit”. Unter diesem Blickwinkel sagen wir, dass Abhängigkeitsbedürfnisse Wünschen entgegenstehen.

Wunsch entsteht aus einem Mangel. Manche Psychoanalytiker gehen sogar so weit, zu behaupten, dass Wunsch der Mangel selbst ist. Auf der sozialen und politischen Ebene fügen wir hinzu, dass das Bedürfnis, oder besser das Bedürfnis nach Bedürfnissen das Feld des Mangels überdeckt und so den Raum der Wünsche völlig verdeckt.

Mit den Bedürfnissen, die der Markt dem Menschen anbietet oder besser verkauft, schneidet der Mensch sich von seinem Grundmangel ab, dem, der ihn zum Menschen macht und der Geschichte schreibt. Indem er mehr oder weniger nur noch das will, was man kaufen kann, verliert er am Ende den Raum und die Zeit, wo er sich darüber klar werden könnte, dass sein Leben kein Ziel mehr hat. Allenfalls werden die Lebensziele, wenn sie bewusst werden, nur noch Forderungen ausdrücken, die sich auf das Überleben, und nicht auf das Leben selbst beziehen. Sehr bald wird das Produkt nicht mehr den ausdrücklichen Wunsch materialisieren, sich an seinem Besitz zu erfreuen, sondern es wird zu einer Gewohnheit werden, die den Konsumenten dazu bringt, nur noch dieses Produkt zu „wollen”, an dem er sich festgekrallt hat. Der Mensch, der das Bedürfnis nach Massenprodukten hat, verwandelt sich sehr schnell in einen „Süchtigen”, genau wie ein Fixer, ein Alkoholiker oder ein fernsehbildsüchtiger Zapper.

Weil der Arbeiter Bedürfnisse hat, die ihm wie lebenswichtige Notwendigkeiten erscheinen, die er auf dem Markt befriedigen kann, nimmt er die schweren Zwänge auf sich, die ihm die ehernen Gesetze der Industrieproduktion aufbürden. Auf diese Art und Weise „erlangt er Befriedigung”, d.h. er befriedigt seine Bedürfnisse. Und der Wunsch hat keine Bedeutung mehr, er hat sich im Ersatzwunsch aufgelöst, Bedürfnisse zu haben. Daraus folgt eine Lebensart und eine Einstellung, wo viele vor sich hinmosern : „Ich brauche diese Bedürfnisse, von denen alle Bilder und alle Spektakel mir sagen, dass ich sie brauche. Würde ich sie nicht brauchen, was bliebe noch von Menschlichem an mir ? Welche Beziehungen könnte ich noch mit meiner Familie, meinen Freunden und meinen Nachbarn anknüpfen ?” Das ist der Sumpf, in dem Lebensziele untergehen.

Den Wunsch wiederzuerobern, den wir „einen tiefverwurzelten Trieb des Daseins” genannt haben, einen Grundmangel, den Mangel, dem der Besitz keines Produktes abhelfen kann, wiederzuentdecken, erweisen sich als dumpfe Notwendigkeiten, die tief vergraben sind. Sie treten vielleicht noch nicht offen zu Tage, aber manche können sie schon wie eine Anziehungskraft in eine namenlose Richtung spüren, zu einem Ziel, dem man nur dann einen Namen geben könnte, wenn man es erreicht. Dies ist ein Paradox, das uns unaufhörlich aus dem Rahmen treibt, denn wie kann man etwas wünschen, das man nicht kennt ? Doch fängt der Wunsch nicht mit seiner Erfindung an ? Den Wunsch muss man finden, erfinden. Wir fügen hinzu, dass diese Erfindung immer ein politischer Akt ist. Mehr noch, es ist der Akt, der selbst seine Jugend ausdrückt. Für Jeden eine Art und Weise, zu sagen : „Meine Jugend ist das, was vor mir liegt, meine Zukunft”.

Jetzt bleibt uns nur noch übrig, anders zu träumen, denn die schönsten Träume haben immer die schönsten Wirklichkeiten erzeugt. Auf jeden Fall, hört niemals auf Skeptiker, außer, wenn es absolute Skeptiker sind, was eine andere Art und Weise ist, zu träumen, um aus einer unerträglichen Wirklichkeit herauszutreten. Was den Menschen dazu treibt, seine sichersten Gewissheiten zu verlassen, bleibt ein Geheimnis. Der Mensch ist nur Mensch, weil er unablässig seine Grenzen überschreiten will, und diese Hartnäckigkeit macht Geschichte. Immer noch etwas weiter zu gehen, ist eine Pflicht, die er sich auferlegt hat, oft unter schmerzhaften Anstrengungen. Dies macht ihn zum Menschen. Wir wollen hieraus eine Forderung, ein Lebensziel machen.

Immer und immer wieder ist dies eine politische Forderung.

Wir wollen die Werte finden - was hier erfinden heißt - die eine Bewegung hervorrufen können, die von „Jugendlichen jeden Alters” getragen wird.


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Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. April 03 von TMTM
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