Les périphériques vous parlent Nr. 4
WINTER 1995/1996
S. 17 und 19
deutsch
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Soldaten ohne Uniform

Müssen wir es soweit kommen lassen, dass wir alles verlieren oder dass uns die Armut bis in unsere letzten Schlupfwinkel treibt, damit wir gemäß dem Beispiel der Landguerilleros im Chiapas plötzlich wieder Lust am authentischen politischen Kampf, dem einer Suche nach Lebenszielen finden ?

Während ich an der Entwicklung des Projektes der Generalstände für die Zukunft, namentlich durch zahlreiche Begegnungen mit Personen oder Vereinigungen, die für sie Partei ergriffen haben, teilnahm, habe ich nicht aufgehört, zu versuchen, mir darüber klar zu werden, wohin ein solches Projekt führen kann. Ich möchte nicht sagen, wohin es uns sicher führen wird, sondern nur, dass ich mich frage, welche Perspektiven sich durch ein solches Unternehmen eröffnen oder offenbaren können. Paradoxer Weise erschien es mir, dass ich im Lichte der Eigenart der Revolte der indianischen Bauerngemeinschaften im Chiapas in Mexiko mit der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee - sie haben sich um den 1. Januar 1994 zu erkennen gegeben - einige dieser Perspektiven erfassen könnte. In der Folge eines Dokumentarfilms von Tessa Brisac und Carmen Castillo : Die wahre Legende des Unterkommandanten Marcos, der im März 1995 auf Arte ausgestrahlt wurde, habe ich einige Stellen der Gespräche mit dem Unterkommandanten, Grenzgänger, Wortführer der Guerillabewegung Marcos aufgezeichnet, die mich besonders beeindruckt haben. Die erste betrifft die Auffassung ihrer Bewegung selbst : „Man darf die Zapatistische Armee nicht idealisieren, sonst versteht man davon nichts.”

In einem Mexiko, welches völlig für die Freihandelszone mit den Vereinigten Staaten und Kanada organisiert ist, hat ein Missklang die liberale Idylle gebrochen. Diese durch die Wirtschaftsentwicklung geopferten, zum Verschwinden, zum Tode in der Gleichgültigkeit verurteilten Indianergemeinschaften haben auf das Argument der Waffen zurückgegriffen, um sich Gehör zu verschaffen. Mehr als nur die Stille zu zerreißen, haben sie es erreicht, eine politische und kulturelle Bresche zu schlagen, in welche ein ganzer Teil der bis heute trägen Mexikanischen Gesellschaft mit Forderungen, welche „Arbeit, Land, Wohnung, Ernährung, Gesundheit, Erziehung, Unabhängigkeit, Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden” betreffen, gesprungen ist. Zur Überraschung vieler haben sie aus „diesen verbrauchten Wörtern” Leben und einen Kampf ziehen können, welcher eine ganze Finanz- und Politikerklasse in Schach hält, die doch von der Solidität und der Stabilität des politischen und wirtschaftlichen Regimes, welches sie in ganz Mexiko durchsetzen wollte, überzeugt war.

Während Marcos von den indianischen Landleuten, die „für ihre Ideen und für ihr Leben zu sterben bereit sind” spricht, erklärt er : „Sie sind sehr menschlich, und sie müssten es bleiben können ; sie sind weniger lange Soldaten und länger Menschen, selbst als Soldaten einer neuen Art. Es ist gut für sie und für diese Armee, es ist gut für diese Armee, dass es ihr höchstes Ziel ist, zu existieren aufzuhören. Und wenn wir es verstehen und auf uns nehmen, dass wir nur für eine gewisse Zeit da sind und dass im besten aller Fälle diese Waffe und diese Maske nicht mehr notwendig sind, das ist nicht dasselbe, als eine Armee zu bilden, deren Ziel es wäre, sich an der Macht zu halten.” Wenn man an die Idee der Zukunft erinnert, dann eckt man mit all jenen an, welche trotz des gezahlten Blutzolls weiterhin die Ordnung der Dinge aufrechthalten wollen. So manche der Politiken, die wir heutzutage erdulden, rechtfertigen sich mit einer Rationalität und einer geschärften, um nicht zu sagen „spezialisierten” Erkenntnis der wirtschaftlichen Phänomene, während sie doch offensichtlich nur Unsinn, Unwissenheit und Ohnmacht verbreiten. Während sie es bei denselben Formen und bei denselben Grundlagen bleiben lassen, lassen sie sich nur unerträgliche soziale und kulturelle Situationen verlängern oder verschlimmern.

Wenn ich den Unterkommandant Marcos das Abdanken eines ganzen Teiles der Mexikanischen Linken unterstreichen höre, frage ich mich, ob der Zynismus, an welchen er erinnert, heutzutage nicht eine Maske oder eher einen Vorwand ist, um jedem Wiederinfragestellen auszuweichen. „Man hatte sich nicht vorgestellt, in diesem Land eine derart zynische Linke zu finden : „Um so schlimmer, alles ist verloren, jetzt heißt es jeder für sich, und rette sich wer kann. (...) Leute, die man vor zehn Jahren als sehr radikal, sehr revolutionär, sehr engagiert angesehen hatte, hat man als Fans des Neo-Liberalismus wiedergefunden. Für uns ist das sehr hart, schwerverständlich gewesen, nicht wegen der persönlichen Enttäuschung, nein, wir verstanden es einfach nicht. Wir verstehen noch immer nicht, was in zehn Jahren geschehen ist, dass die Leute, welche hätten wissen müssen, dass es der Mühe wert war, zu kämpfen, aufgegeben haben, während jene, welche nichts zu gewinnen hatten, dazu bereit sind, zu kämpfen.”

Ausgegrenzt, verstoßen, versklavt
 
 

Ein einziges Mal blieben die Zeitungen stumm. Sie begnügten sich damit, „die Tatsachen” dieses jungen Mörders von fünfundzwanzig Jahren zu berichten, der, bevor er zwei Menschen umbrachte, damit begonnen hatte, Tauben zu köpfen. Er steckte den Kopf dieser Tauben in eine Flasche, in der er ihn verfaulen ließ, dann roch er den Dunst des Todes am Flaschenhals, den verfluchten Geruch des Todes, der ihn trunken machte und der ihm im Mund einen Mordgeschmack hat zusammenbrauen müssen. Schönes Leben. In seinem Prozess gab er zu, eines seiner menschlichen Opfer enthauptet zu haben, nachdem er es getötet hatte. Er behielt den Kopf einige Tage bei sich, sprach zu ihm, entschuldigte sich für seine Tat und machte ihm eine makabre Konversation über Schicksal und Leben. Diese krankhafte Gefährlichkeit, von der die Justiz nicht sehr gut sprechen konnte, in Wahrheit die Gefährlichkeit der Jugend, die im Wahlkampf sonderbaren Beschäftigungen überlassen ist, schuf abgesehen davon nur einige Gerüchte in der großen Markthalle der Geschäftswelt, wo der Anblick der Ziffern der Existenz den Tumult der Verstörten verbirgt. Diese unvorhersehbaren Verbrechen belasten kaum das Gewissen der Hausfrau, die sich nur um eines sorgt : Um die Erhaltung einer Kaufkraft, die ihr Alter sichern kann. Der Kadavergestank vermischt mit dem Geruch gesperrter Sparpläne brauen eine stinkende Gesellschaft.

 

Die Lebendigkeit der Generalstände für die Zukunft hängt von der Empörung ab, die jene, welche daran teilnehmen, motiviert. Sie empören sich nicht, um besser zu überleben, sondern zunächst, um zu leben, für die Möglichkeit, zu leben. Hierzu möchte ich Georges Bataille in La part maudite zitieren : „Wenn Menschen ihren Lebensunterhalt sicherstellen oder Leiden vermeiden, dann nicht, weil dieses Ergebnis ihnen genügt, sondern um zur unabhängigen Funktion der freien Verausgabung zu gelangen.” frz. Originalzitat Zwar benutzt G. Bataille diese Bezeichnung eher in einem ganz anderen Sinn, dem der Hingabe, aber ich kann nicht umhin, bei diesem Satz eine Beziehung mit dem Verausgabungskonzept, wie es in Nr. 2 von Les périphériques vous parlent dargestellt ist, anzuknüpfen. Kurz angesprochen bedeutet Verausgabung, im Gegensatz zum Konsum, den Gebrauch dessen, was man sich beschafft, zu überdenken. Nach meiner Meinung bedeutet Revolte heutzutage Verausgabung und Hingabe. Vor Kurzem verfolgte ein Dokumentarfilm den Werdegang von „Klassenlosen”, ohne festen Wohnsitz, Verunsicherten, die im einzigen Unterschlupf, den sie hatten finden können, einem Tunnel in New York, eine Untergrundgesellschaft schufen ; einer dieser Verstoßenen der Gesellschaft schloss das Ende des Films mit der Erklärung ab, dass „die einzige Möglichkeit, alles zu behalten, ist, alles hinzugeben”. Um in einer Epoche, welche den absurdesten Widersprüchen unterworfen ist, leben zu können und Leben, Würde, Intelligenz, kurz alles, was aus uns Menschen macht, zu behalten, hat man ohne Zweifel nur die Möglichkeit, bis zum Ende unserer Widerstands- und Einbildungskraft für eine zu schaffende Zukunft zu gehen, und dies selbst aus nichts, aus der tiefsten Armut heraus. Diese Revolte, die nicht die Hingabe, die Möglichkeit der Hingabe vergisst, lehrt uns zu allererst, dass es unmöglich ist, gleichzeitig ein unwissender, dem Markt unterworfener Konsument, welcher die Folgen seiner Akte nicht ermisst, und ein Empörter zu sein, der eine Zukunft erobern will.

Unter Erwähnung der Geschichte der Guerillabewegung - zu Beginn waren sie nur sechs - berichtet der Unterkommandant Marcos, wie sie haben lernen müssen, den indianischen Landleuten zuzuhören, denn Sprache und Kulturzusammenhang waren anders als die Ihrigen. Eines der Hauptelemente des Zusammenwirkens für Generalstände für die Zukunft scheint mir diese Zuhörqualität zu sein. Sie wird von dem Augenblick an notwendig, wo wir uns im Rahmen eines Projektes, das sich aus den besonderen Möglichkeiten und Eigenarten eines Jeden heraus bewegt und entwickelt, einfügen. Ich glaube, nur ganz wenige können von sich behaupten, die Zuhörqualität gelernt, entwickelt zu haben, welche letztendlich dazu führt, zu verstehen, dass „der Andere” nicht der Verantwortliche seiner Frustrationen ist, sondern jener, mit dem ein Jeder sein Leben teilt.

Was man in der Familie, in unseren Schulen und in vielen anderen Gesellschaftsräumen tatsächlich, ich möchte sagen „von selbst” lernt, das ist Feigheit, Zukunftsangst, „Vorwärts wie zuvor”. Sicherlich „die Zukunft ist noch nie so ungewiss gewesen”, aber genau dann, wenn das Morgen unbekannt ist, müssen wir lernen, es zu erfinden. Die Rolle, die Verantwortung eines Jeden sind vielleicht noch nie so entscheidend für die Zukunft gewesen. Das Schlimmste, was geschehen kann, ist unsere Verblendung für die eigentlichen Gründe unserer Verwirrung und unsere Unwissenheit angesichts einer grundlegend neuen Lage. Der Bruch der Gewissheiten hat nichts Beängstigendes an sich, aber es ist die Idee, welche man sich von diesem Bruch macht, welche uns ängstigt, wir machen daraus eine furchterregende Wirklichkeit : Das Aufkommen einer Gesellschaft, die aus uns Fremde auf fremder Erde machen wird, treibt uns dazu, uns an den alten Ideen von Sicherheit und Stabilität festzuklammern, zumal uns die Besessenheit von moralischer und materieller Bequemlichkeit und vom Konformismus dazu treibt, die Unsicherheit der Existenz als Folge einer vorübergehenden Krise und nicht als die unentrinnbare Bewegung der Geschichte selbst zu betrachten. Wir sind Zeugen einer beeindruckenden Rückkehr zu jenen Werten, welche Nazismus, Faschismus oder andere politische Formen der Feigheit und der Preisgabe erzeugt haben. Bestätigt eine von der Zeitung Le Monde am 20. September 1995 veröffentlichte Erhebung des CCA nicht genau dies ? Sie berichtet, dass 59 % (des befragten Publikums, gegenüber 22 %, fünf Jahre zuvor) zugeben, die Meinung zu teilen, gemäß welcher „es besser ist, die vorgezeichneten Wege nicht zu verlassen, die Regeln zu befolgen, als seine Verschiedenheit zu zeigen”. Es wäre eher an der Zeit, „abzuwarten, als Neuerungen einzuführen” (85 %), (...) und „die Ausländer dazu zu ermutigen, in ihr Land zurückzukehren” (59 %). Was die Frauenarbeit betrifft, so ist diese konservative Meinung besonders ausgeprägt. Im Jahre 1995 glauben 54 % der Personen, die das CCA befragt hat, dass man eher „die Hausfrauen, als ihre Arbeit besserstellen” sollte. An einem Zeitpunkt, an dem die Wissenschaften uns dazu auffordern, unser Welt- und Menschenbild vollständig neu zu überdenken, kann es als Paradox erscheinen, dass sich eine Mehrheit zurückzieht und im Warten auf eine Rückkehr der „guten alten Zeit” stehen bleibt. Dies ist eine Wirklichkeit, die man nicht vergessen darf, wenn man das Wort „Widerstand” benutzt. Denn genau dies ist angezeigt : Eine reaktionäre Welle, der all jene, welche noch an ihre Zukunft glauben wollen, sich entgegenstellen werden müssen.

Ich wage noch zu hoffen, dass nicht die Verunsicherung und ihre geschädigten Volksmassen unser Leben umwälzen werden, sondern die Bewegung unserer Vorschlagsfähigkeit, Phantasie und Initiative, um lebendig zu werden, um sich nicht vom Mittelmaß übermannen zu lassen und in ein schwieriges Überleben oder den Wahnsinn geworfen zu werden.

Zum Abschluss möchte ich noch einen Satz des Unterkommandanten Marcos zitieren, den wir uns für Generalstände für die Zukunft aneignen könnten : „Wir möchten nicht, dass man von uns den Kult des Todes erbt. Unser Erbe ist der Kult des Kampfes. Und, wie man hier sagt, um kämpfen zu können, muss man am Leben sein, wenn man erst einmal tot ist, kann man nicht mehr kämpfen ! ” Aus den schmerzhaften Realitäten des Alltagslebens auszusteigen, in die Entsagung zu tauchen, sich einem langsamen Tod anheim zu geben, diese Versuchungen spuken in dieser Epoche umher, aber eine derartige Verfassung wird manchen nicht die Lust zum Leben nehmen können. Lasst uns dafür sorgen, dass sie sehr schnell zur Mehrheit werden.

Christopher Yggdre


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