Les périphériques vous parlent Nr. 4
WINTER 1995/1996
S. 50-53
deutsch
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nach Der Einmütigkeitszwang
nach Für eine Welt mit Zukunft
nach Generalstände für die Zukunft

Schluss machen mit dem Einmütigkeitszwang

Die Verantwortlichkeit ist sicher keine von einer kargen Moral erfundene Begrenzung unserer Freiheit. „verantwortlich zu sein” bedeutet zu allererst, sich darüber klar zu werden, dass unsere Akte Folgen haben, dass wir nicht „in der Welt” sind, aber dass wir etwas damit zu tun haben, wenn die Welt so ist, wie sie ist, und dies, ob wir es wollen oder nicht. In diesem Sinne sagt uns „die Verantwortlichkeit” die grausame Wahrheit ins Ohr : „Es liegt nur an uns, wenn wir nicht an unserem eigenen Leben vorbeigehen wollen”.

Während die Krise andauert, drängt sich Vielen eine Art dramatischer Gewissheit auf : Wir können uns auf niemand mehr verlassen. Die Studenten glauben, dass sie wenig von der Universität zu erhoffen haben, um sie auf einen Beruf vorzubereiten, die Lohnempfänger können nicht mehr auf die Industrie zählen, um Arbeitsplätze zu schaffen, ein großer Teil der öffentlichen Meinung macht sich über die Fähigkeit der Regierenden, die Staatsangelegenheiten zu regeln, kaum noch Illusionen, und die Arbeiter spüren wohl, dass sie nicht mehr auf den Fürsorgestaat zählen können. Wie lange können wir noch hoffen, dass ein RMI oder ein anderes „Wunder der Vorsehung” den künstlich auf der Armutsschwelle gehaltenen Ärmsten werden überleben helfen können ? Zum ersten Male seit dem Beginn dieses Jahrhunderts wird die zukünftige Generation weniger gut als die ihrer Eltern leben. Wirtschaftswachstum und sozialer Aufschwung sind steckengeblieben. Alle Wirtschaftswissenschaftler bezeugen, dass der Wiederaufschwung, gleich wie hoch er auch sein mag, keine Arbeitsplätze erzeugen wird. Eine under-class macht sich überall breit. Ein Kind von Dreien lebt in Großbritannien unter der Armutsschwelle, 10 % der Kinder essen sich in den Vereinigten Staaten nicht satt. Und in Frankreich ? Die Zukunft erscheint zweifellos nicht rosig. Trotz allem hängen die Dinge auch von uns ab. Es ist wahr, dass man nicht vergessen darf : Die Zukunft ist das, was wir daraus machen. Es geht hier um unsere Verantwortlichkeit. Sie sagen Verantwortlichkeit ? Betrachten wir uns dies etwas näher.

Im Artikel Der disqualifizierte Mensch”, welcher in der vorliegenden Nummer erscheint, beschreibt Marc'O, wie der Mensch „der Zweiten Industrieperiode” soweit heruntergekommen ist, dass er sich nur noch als Interpret zum Ausdruck bringen kann. Die Menschen dieser Periode waren folglich Organisationen unterworfen, welche als Gegenleistung für sie sorgten. Jetzt sehen sich diese Menschen, zur Verantwortungnahme im „team work” „aufgerufen”, zur Selbstorganisation aufgefordert, zu ständiger Ausbildung verpflichtet und dazu getrieben, gezwungen, sich mit der immer schnelleren Umformung der Berufe zu entwickeln. Kurz, heutzutage braucht die Welt Akteure, keine Interpreten. Der Autor lässt ein grundlegend neues Gesellschaftsprojekt, welches eine mögliche Richtung für den Wandel definieren kann, durchblicken. Ich stütze mich namentlich auf seine Erwägungen, um zu versuchen, einige Problematiken, die sich auf das Interpretenverhalten beziehen, aufzuzeigen, denn dieses Verhalten erweist sich heutzutage als das Haupthindernis für einen wirklichen Wandel. Wie kann man u.A. die Anstrengungen, welche man uns zur Anpassung an den Wandel abverlangt, unterstützen ? Dies ist eine außerordentliche Arbeit, denn sie berührt direkt unsere Umformung als Individuen im Rahmen der Gesellschaft.


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Der Einmütigkeitszwang
nach Für eine Welt mit Zukunft
nach Generalstände für die Zukunft

DER EINMÜTIGKEITSZWANG


Ich benutze den Ausdruck „Einmütigkeitszwang”, um meine Argumentation zu entwickeln. Worum handelt es sich ?

Es handelt sich sehr wohl um einen Zwang, welchen die Logik der Vergangenheit dem heutigen Denken weiterhin aufzwingt. Dieser Zwang führt dazu, sich dem „Stand der Dinge” zu unterwerfen. Er schreibt in der Tat eine laue (schweigende) Einmütigkeit vor, welche dazu führt, alle Folgen des Ultra-Liberalismus der westlichen Länder gleich welcher Art als unausweichlich zu akzeptieren. Dies ist in der Tat eine ganze Logik, und diese Logik behauptet : Da die Dinge so sind, wie sie sind, kann man sich ihnen nur noch unterwerfen. Wir können nichts dafür. Da niemand etwas daran ändern kann, sagt sich ein Jeder : Das ist nicht meine Schuld. Diese Logik hat zu einer Denkweise geführt, aus der man heute nur schwer ausbrechen kann.

Die sehr starke Entwicklung der Bürokratie in der Arbeitsorganisation im Laufe des 20. Jahrhunderts ist daran sicher nicht ganz unschuldig. Ich möchte hierzu zwei Bemerkungen von M. Lobrot zitieren :

Man kann sie (die Bürokratie) dadurch definieren, dass sie ein oder mehrere Kollektive verwaltet. (...) Offensichtlich folgt daraus, dass sich die Verwalteten jedweder menschlichen Hauptfähigkeit entledigt sehen : der Fähigkeit, zu entscheiden, sich selbst zu organisieren, zu wählen, zu kommunizieren, usw. Sie sind darauf beschränkt, « Dinge », mehr oder weniger passive Ausführende, Rädchen in einer Maschine, materielle Instrumente zu sein.”
 
„Die Bürokratie ist selbst eine Organisation. Sie ist in der Tat äußerst hierarchisch, derart, dass die Verantwortlichen immer auf einen hierarchischen Vorgesetzten und letztendlich auf die höchste Autorität verwiesen werden, welche ihrerseits immer die unteren Instanzen beschuldigt, wenn irgendetwas nicht funktioniert. (...) Diese Aufteilung erlaubt es, Anschuldigungen und Fragestellungen auszuweichen : Man kann immer sagen, dass « der Andere » schuld ist.” frz. Originalzitat (La Pédagogie institutionnelle, Verl. Gauthier Villars - Hommes et organisation)

DIALOG DER TAUBEN

- Sie sind jung, Sie haben doch Zeit...

- Zeit wozu ?

- Zeit, zu leben. Hört die Tränen des Dichters : „Gerade lernt man, zu leben, und schon ist es zu spät”.

- Wir beugen uns nicht dem Schicksal, über das traurig der Dichter singt. Wenn der Dichter weint, so weint er über unsere Entsagung. In Wahrheit ruft er : „Das Leben wartet nicht darauf, gelebt zu werden, sonst ist es wirklich bereits zu spät.”

- Zu spät, was ist das ?

- Es ist zu spät, wenn man sich von seiner Gegenwart hat berauben lassen.

Die Gegenwart ist eine Gegenwart des Himmels. Sie ist das Leben selbst. In seiner Gegenwart gegenwärtig zu sein, ist Vorbedingung für die Existenz. Sie ist das höchste Gut, denn es ist unser einziges Gut. Lass es dir nicht rauben. Morgen ist es zu spät. Zu spät. Dann sind wir alt, so alt, dass wir uns nicht einmal mehr an unsere Jugend erinnern. Dann hassen wir sie, so erzeugt man triste Jugendhasser. Wir wollen nicht jene sein, die morgen mit dem Karabiner in der Hand bellen : Gebt endlich Ruhe, ihr Jungen, fallt uns nicht auf die Nerven !

Wir werden von der Bürokratiekultur erzogen, verwurzelt, angepasst und geformt. Es ist für uns äußerst schwierig, ihrem Eingriff zu entgehen. Die Vorherrschaft des auf der hierarchischen Büroorganisation beruhenden Taylor-Systems hat durch die ständig wiederholte Vorschrift „schuld ist der Andere” unsere Denkart selbst verformt. Diese Feststellung veranlasst mich, zu behaupten, dass die Bürokratie heutzutage ein Hauptgrund für die Rückständigkeit der Denkweisen ist. Zweifellos kommt die hergebrachte und hartnäckige Idee, dass es immer „die Schuld des Anderen” ist, allen gelegen, denn die Tatsache selbst, dass es irgendwo einen Schuldigen gibt, erspart es einem Jeden, die gefürchtete Frage der Verantwortlichkeit und in der Folge der Selbstverantwortung zu stellen. Am Ende ist dieser „Andere” ein sehr bequemer Ausdruck, um „alles” zu bezeichnen, somit alles Mögliche und folglich jeden x-beliebigen Sündenbock. Der Andere wird notwendig, um die Verantwortlichkeit auszuräumen. Alles in allem : Wer ist der Andere ? Universität, Unternehmen, Familie, Sozialwesen, politisches System ? Oder etwa der Bürokratiegeist selbst, den man verflucht, wenn er uns verfolgt, der aber derart bequem ist, wenn man von ihm profitieren kann ? Diese Fragestellungen möchte man sicherlich lieber verstecken. Sie sind zu gefährlich.

Dann ruft man nach Toleranz. Man muss tolerant sein. Punkt, Ende der Zeile. Doch ist die Toleranz, wenn man ihr Ziel nicht klarstellt, auch eine Art und Weise, keine Stellung zu beziehen, oder keine Meinung zu haben oder auch, wenn man eine hat, sie für sich zu behalten. Der Ausdruck „Das ist cool ! ” erinnert genau an die negative Bedeutung, welche der Ausdruck „Toleranz” auch besitzt. Leider sind die Dinge überhaupt nicht cool und es ist unannehmbar, den „Stand der Dinge”, welcher Unglück, Armut, Ungerechtigkeit und Ausgrenzung erzeugt, zu dulden.

Ich möchte nicht das Konzept der Einmütigkeit selbst in Frage stellen, es ist für die guten zwischenmenschlichen Beziehungen sicher notwendig. Doch was ich aufs Heftigste zurückweise, das ist die „vorgefasste” Idee einer notwendigen, selbstverständlichen Einmütigkeit und die Verwechslung der Einmütigkeit mit der Idee eines status quo, mit der Rechtfertigung eines modus vivendi, welcher weder die Problematiken noch den Einsatz, welche jede Tätigkeit, jede menschliche Beziehung mit sich bringen, berücksichtigt. Hier fühle ich mich eher geneigt, „den Einmütigkeitszwang” mit einer Art von Werbung, welche darauf abzielt, gleichzeitig den Absatz eines Produktes und ein passives Konsumverhalten im Hinblick auf eine Geschmacksgleichschaltung durch als Idealbilder vorgesetzte Normen zu programmieren, zu identifizieren. Die ständige Berieselung der Werbung erhält die öffentliche Meinung in einer Geistesverfassung, welche sie die Dinge so, wie sie sind, bereitwillig passiv akzeptieren lässt. Die Werbungsgleichschaltung, welche zunächst den Massenkonsum sicherstellen muss, erzeugt in der Tat eine Art von „Zwangsroutine”, wenn man mir wohl den Ausdruck erlauben will, an welcher sich diese flaue Einmütigkeit, in der sich jede Hoffnung auf den Aufbau einer anderen Welt festfährt, nähren wird, wenn sich das Konsumbedürfnis festgesetzt hat.

Des Weiteren stellt sich im Namen dieser sehr, sehr flauen Einmütigkeit „das Vermeiden all dessen, was Kopfzerbrechen bereitet” (Politisches, Sozialwesen, Kultur und Anderes) ganz natürlich als Wesensart, eine Art von Nicht-Ausdruck, welcher das Nicht-Zuhören erzeugt, dar. Das Nicht-Zuhören ist das, was in ein Ohr hineingeht und sofort ohne die geringste Wirkung aus dem anderen wieder herauskommt. Auf jeden Fall entpuppt sich diese so weit verbreitete Tätigkeit, dass sie sich mit Müh und Not durch den ständigen Lärm einer Welt, die ihr musikalisches Ohr verloren hat, hin- und herwerfen lässt, als eine „gute Entschuldigung”, um sich der Einmütigkeitsnorm anzupassen. Letztere wird immer unter der Form ihres Spektakels sichtbar : Ein eintöniges Spektakel, das uns allenthalben, in allen Spielhallen, in der Küche oder im Speisezimmer vor dem Fernseher begleitet, uns an jedem Tag, den man mit Nichtstun verbracht hat, das, was außerhalb des Blickfeldes des Lebens liegt (das wahre, zu lebende Leben) verbirgt und uns in alle Wartesäle und verpassten Gelegenheiten wirft. Kein Problem, die politischen Debattierer debattieren an unserer Stelle, jeden Mittwoch und Donnerstag, oder gar montags und dienstags, aber nie am Sonntag und vor Allem nicht am Samstagabend.

Wer hätte sich vor fünfzehn Jahren ausgedacht, akzeptieren zu können, was uns heutzutage beinahe normal erscheint ? Ist das normal, eine Wirklichkeit ohne Bestand, eine Demokratie ohne Ziel, die sich selbst mit den „Lustobjekten, die sie erzeugt hat”, verwechselt, eine Demokratie, welche den Bürger und Zeugen, der von seiner Ohnmacht überzeugt die Not seines Nächsten betrachtet, zum Rang eines Spanners abqualifiziert, indem sie es zur Pflichtübung macht, ihre eigenen Entartungen zu übersehen ? Ist das normal ? Auf jeden Fall einmütig. „Diese normalisierten Wesen”, welche sich nur von ihrem eigenen Unglück betroffen fühlen, damit sind wir alle gemeint, wir dürfen das nicht vergessen, aber vor Allem dürfen wir darauf nicht stolz sein.

Wäre es nicht besser, zunächst diese Art von Einmütigkeit zurückzuweisen, wäre es auch nur, um Möglichkeiten für eine Einmütigkeit mit ganz anderen Absichten zu erfinden ? Und hierfür behaupte ich, dass wir eine andere Idee der Gegenwart, der Demokratie, eine andere Idee vom Anderen ebenso, wie eine andere Art von Idee, welche sich auf uns selbst oder auf unsere Verantwortlichkeit für ihre Entwicklung bezieht, einführen müssen. Sicherlich muss man sich hier verausgaben und einsetzen. Die Gegenwart beginnt mit der Planung eines Projektes, welches einfach bedeutet, es morgen entstehen zu lassen. Der Astrophysiker Reeves sagt das bestens :

„Wir sind eine der Früchte einer seit fünfzehn Milliarden Jahren andauernden Entwicklung. Doch in der Tat sind wir ein Teil der Generationen, welche über die Richtung dieser Entwicklung entscheiden werden. In fünfzig Jahren wird man wissen, ob die Menschheit ihre Macht verwalten kann. Es handelt sich um ein unveröffentlichtes Kapitel der Geschichte der Welt, der Geschichte der Komplexität.” frz. Originalzitat (Revue BIC Nr.27/1995/1.)

Jetzt geht es darum, sich um diese Welt in Gefahr, d.h. ohne Zukunft, zu kümmern. Es hängt von uns allein ab, und man muss sich wohl in den Kopf setzen, dass es niemand an unserer Stelle machen wird.


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FÜR EINE WELT MIT ZUKUNFT


Sicherlich muss man, wenn man sich einen Blick auf eine Welt, die eine Zukunft hat, geben will, zunächst diese Zukunft erarbeiten. Hierzu müssen wir sofort ebenso unser gewohntes Repräsentativsystem wie unser Verhalten verwandeln. Doch Achtung ! Wir dürfen nicht vergessen, dass verwandeln zunächst bedeutet, die Kriterien, welche den Wandel bewerten, zu verwandeln ; es bedeutet einen Phasenwechsel und in der Folge, einen ganz anderen Sinn für das Leben zu suchen ; wir wollen das Entwicklungstätigkeit nennen.

Ich sagte zu Beginn, dass die Bürokratieorganisation auf dem ständigen Abschieben des „Verantwortlichkeitsbegriffes” beruht. Die Bürokratie unterhält die Idee, dass „das Milieu” das Verhalten des Menschen in einem als unbeweglich angesehenen „Gegenwärtigen” bestimmt. Dies nährt sicher die von Kafka so geschätzten Erzählungen über die bürokratische Absurdität, aber andererseits verankert diese Überzeugung in jedem von uns das Gefühl, dass dieses „absurde Milieu” ein Schicksalszwang ist, dem niemand entgehen kann.

Zweifellos könnten wir versuchen, unsere Meinung über uns selbst zu ändern. Wir könnten uns vorstellen, dass das Milieu kein „unbewegliches Gegenwärtiges” ist, auf welches der Mensch nicht einwirken kann und welchem er sich nur noch ganz einfach anzupassen hätte. Man könnte es z.B. als einen gegebenen Zusammenhang, in welchem der Bürger durch seine Tätigkeit eine andere Umwelt entstehen lässt, ansehen. Bezüglich der Beziehung zwischen den Lebewesen (insbesondere der Moleküle mit der Umwelt) schreiben F. Maturana und F. Varela :

„(...) wir haben zwei operationell voneinander unabhängige Strukturen unterschieden : Das Lebewesen und seine Umwelt. Zwischen beiden entsteht eine Strukturkongruenz, was unumgänglich ist (oder aber die Einheit verschwindet). Während der Interaktionen zwischen dem Lebewesen und seiner Umwelt im Rahmen dieser Strukturkongruenz entscheiden die Umwelteinflüsse nicht darüber, was mit dem Lebewesen geschieht ; eher ist die Struktur des Lebewesens für die Verwandlungen, welche mit ihm stattfinden, entscheidend. Diese Interaktion ist nicht instruktiver Art, denn sie entscheidet nicht darüber, welches ihre Wirkungen sind. Daher benutzen wir den Ausdruck « eine Wirkung auslösen ». (...) Das Gleiche gilt für die Umwelt : Das Lebewesen ist Quelle von Störungen, nicht von Weisungen.” frz. Originalzitat (L'arbre de la connaissance)
Ausgegrenzt, verstoßen, versklavt
 
 

„10 % der nordamerikanischen Kinder essen sich wegen der Armut ihrer Eltern nicht satt, behauptet eine Studie des Ernährungsforschungs- und -aktionszentrums, die am Mittwoch veröffentlicht wurde. Von 45 Millionen Kindern von weniger als 12 Jahren gehen beinahe 4 Millionen mit leerem Magen zu Bett, überspringen Mahlzeiten oder essen nicht genug, weil es ihren Eltern an Geld oder Lebensmittelkarten fehlt.” (Libération, 22./23. Juli 1995). Die Information ist bitter, sie ist im gleiche Augenblick gefallen, in dem die Vereinigten Staaten mit großem Aufwand den fünfzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges feierten. An einem Augusttag im Jahre 1945 hatte Truman im Siegestaumel daran erinnert, dass der Präsident Roosevelt beim New Deal versprochen hatte, dass kein einziges Kind in den Vereinigten Staaten mehr Hunger leiden sollte ; er schloss ab, dass an diesem Tage des Triumphes „Wort gehalten worden war”. Fünfzig Jahre später...

 

Ich möchte mit diesem Zitat an den Begriff „Auslöser” (shifter), welchen das Lebewesen gegenüber seiner Umwelt, seinem Milieu spielt, erinnern. Wenn man bei der Tatsache bleibt, dass der Mensch das Lebewesen ist, und wenn die Umwelt hier die ganze Gesellschaft darstellt, dann wird man feststellen können, dass die Zellen, welche wir sinnbildlich sind, unablässig mit der Umwelt interagieren. Folglich muss man sich fragen : Was hat uns auf der sozialen und politischen Ebene von diesem so „natürlichen” Verhalten abgehalten ? Wie kann man sich eine Interaktion zwischen Bürger und Gesellschaft reell und klar vorstellen, um Quellen von Störungen erkennen und danach entdecken zu können, welches die Wandel auslösenden Elemente dieser Gesellschaft sein könnten ?

Wenn wir unsere Vorstellung von „unserer Position im Spiel der Geschichte” klar orientieren wollen, müssen wir lernen, uns selbst als in einer „aktiven Beziehung” mit den Anderen Handelnde zu betrachten. Man kann nur insoweit verstehen, worin die Rolle des Menschen im Milieu, in dem er handelt (dem der Arbeit und des Sozialwesens) besteht, als seine Erkenntnisproduktionstätigkeit (das, was man Verständnis nennt) ihn dazu führt, sich als eigenständiger Akteur des Lebens dieses Milieus zu betrachten. Ich habe bewusst den Ausdruck „Erkenntnisproduktion” benutzt, um anzudeuten, dass die Erkenntnis nicht nur etwas Vorgegebenes, sondern vor Allem ein Infragestellen dieses Vorgegebenen ist, eine Tätigkeit, welche Erkenntnis erzeugt und dadurch auf Milieu und Umwelt einwirkt. Auf diese Art und Weise trägt der Mensch Verantwortung.

Mit all dem möchte ich sagen, dass wir, wenn wir heutzutage ein Projekt für eine Welt, welche keines hat, erstellen wollen, den Wandel in Akten als Akt einer Produktion der Erkenntnis, welche wir von uns selbst, von unserem Verhalten haben, „umdenken” müssen. Um es mit den Worten von F. Varela zu sagen : Um eine Strukturkongruenz mit unserer Umwelt zu begründen, müssen wir die Folgen unserer Akte auf uns nehmen ; dies bedeutet Verantwortlichkeit. Es bleibt die Frage : Wie kann man heute darüber denken ?

Zuallererst wird offensichtlich folgender Stellungsbezug notwendig : Für mein Leben ist nicht mehr der Andere oder das Schicksal verantwortlich, sondern ich selbst. Dies bedeutet sehr prosaisch, sich in die Hand zu nehmen, d.h. zu machen, was kein Anderer kann und vor Allem nicht an meiner Stelle machen wird. Dies hat unmittelbar zur Folge, dass die Notwendigkeit, auf uns selbst zu zählen, uns dazu antreibt, unsere Persönlichkeit zu entwickeln, um aus ihr das beste Instrument, um der Labilität der Zeiten zu begegnen, zu machen. Wenn ich nicht mehr auf den Anderen zählen kann, muss ich somit vor Allem lernen, verantwortlich zu sein, auf mich selbst zu zählen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass das Wort verantwortlich sein ursprünglich „für seine Akte geradestehen” bedeutet. Diese Definition spricht das Individuum an, wenn es sich dafür entscheidet, seine Aktion, um zu existieren, zu erfinden, was es unausweichlich dazu führt, alles zu tun, um seine Umwelt zu verändern. Der „eindimensionale”, unverantwortliche Mensch hat in der Gesellschaft nicht mehr seinen Platz, selbst wenn letztere die Organisation, welche ihn auf diesen Zustand chronischer Unverantwortlichkeit beschränkt hat, aufrechterhält. Es ist sicher kein leichtes Unterfangen, sich von dem „paradoxen Zwang” „Sei anders, aber wie die Anderen” zu befreien. Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als zu beginnen, im Rahmen einer Kultur, welche im Gegenteil jede neuartige Verhaltensweise vernichtet, indem sie sie als „abwegig” abtut, andere Verhaltensweisen anzunehmen.

Daher sollten wir nicht nach „neuen guten Lösungen” suchen, sondern uns eher darum bemühen, andere Fragen zu stellen und andere Verhaltensweisen anzunehmen : „wir wollen den Wandel experimentieren”, indem wir zunächst - nicht nur für den Spezialisten, sondern auch für den Bürger - „das Recht zum Experiment” fordern. Vielleicht werden wir dann lernen können, den Wandel zu verstehen.


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Generalstände für die Zukunft

GENERALSTÄNDE FÜR DIE ZUKUNFT


Die in der Nr. 3 der Périphériques vorgebrachten Vorschläge für die Verwirklichung der Generalstände für die Zukunft führen eine derartige Problematik ein. Sie wenden sich an jedes Individuum als verantwortlicher Bürger, individuell und gleichzeitig als Teilnehmer der Gesellschaft, einen Bürger, welcher ebenso kritische Analysen wie Vorschläge einbringt und entschlossen ist, jede politische Aufforderung, die auf „passiver Anhängerschaft” beruht, zurückzuweisen, auch wenn sie sich auf die besten Ideen der Welt bezieht. Stattdessen muss ein Jeder das Seinige beitragen, d.h. seine Eigenart einbringen. Damit das Projekt der Generalstände für die Zukunft die Demokratie sichtbar fördern kann, wird es sicher jedem Bürger, jeder Gruppe, Gemeinschaft oder Mini-Gemeinschaft, ebenso auf der Wirtschafts-, wie der Sozial- und Kulturebene, die notwendigen Möglichkeiten, Mittel und Instrumente geben müssen, welche sie möglicher Weise dazu führen können, ihre Verantwortlichkeit in die Tat umzusetzen und und sie dazu anregen, jede Form von Kritik, die nur ihre Missbilligung zum Besten gibt, zu Gunsten einer Kritik, welche auf ein Projekt abzielt, aufzugeben. Unter einem anderen Gesichtspunkt wirft die Teilnahme an dem Projekt der Generalstände für die Zukunft verschiedene Grundfragen auf, unter anderen folgende : Wenn du glaubst, den Stand der Dinge ändern zu können, was möchtest du dann genau verwandeln und wie ? Und vor Allem : bis wie weit bist du dazu bereit, dich zu engagieren, um diesen Wandel zu schaffen ? Dies stellt andererseits den Bürger vor eine doppelte Pflicht, persönlich (sein Verhalten) und kollektiv (sein Verhalten in einem Komplex).

Hier taucht offensichtlich ein Grundproblem auf : Welche Art von Lehre wird hiermit notwendig ? Ohne jeden Zweifel muss man sie als Frucht von Forschung und Arbeit, einer Selbst-Ausbildung, welcher das Experimentieren wird Raum und Leben geben müssen, erfinden. Anstelle der Erfindung einer neuen Art von Lehre müsste man eher von der Einrichtung eines logischen Systems, welches die Beziehung zwischen Produktion, Forschung und Ausbildung zum Ausdruck bringt, sprechen. Doch wenn wir wirklich dieser Krise entkommen wollen, dann wird man sich, um diesen Weg beschreiten zu können, wohl zunächst davon überzeugen müssen, dass jeder von uns mehr, als er es glaubt, auf sich selbst und auf seine Umwelt einwirken kann. Daran zu denken, stellt uns unserer Verantwortung gegenüber. Der Akt, sich ganz und gar als Bürger zu denken, statt sich als Produktionsmittel, Konsumagent oder einfaches Nutzelement der menschlichen Reserven anzusehen, verpflichtet zu einer Praxis, die sicher recht schwierig zu erarbeiten und zu entwickeln ist. „Die Idee der Schwierigkeit selbst”, die Idee, welche man sich selbst von jeder Schwierigkeit macht, wird zum Hindernis. Aus dieser Furcht vor der Schwierigkeit muss man ausbrechen, wenn man sich nicht die Dinge noch mehr erschweren will. Wir müssen es zugeben, „der Stand der Dinge” ist schwierig, aber wir müssen diesen Schwierigkeiten entgegentreten, bevor sie eine verzweifelte Lage, welche uns unerbittlich zerstören dürfte, schaffen.

Wenn wir z.B. erwägen, dass die Jugend die Zukunft darstellt, dann müssen wir ihr helfen, sich dieser ständig verdrängten Zukunft zu eröffnen. Die Jugend von Kultur hat eine klare historische Rolle : Uns aus Jahrhunderten von Gehorsamsdressur im Arbeitsrahmen, aus Abgrenzung von Funktionen und Disziplinen, aus organisierten, auf dauerndem Spektakel beruhenden Freizeitbeschäftigungen ausbrechen zu lassen. Wir müssen ihr alle Mittel geben, um dorthin zu gelangen. Man wird die Zukunft nicht sicherstellen, indem man sie auf dem Altar der Budgetkürzungen opfert oder überholte Diplome verteilt. Die Zukunft der Jugend steht in der Gegenwart auf dem Spiel. Ohne Entwicklung gibt es keine Zukunftsperspektiven. Nichts als eine furchterregende Zukunft.

Im Laufe dieses Artikels habe ich versucht, Argumente darüber zu erstellen, als wie notwendig es sich erweist, die flaue Einmütigkeit, welche dem Bürger seine Persönlichkeit raubt, um aus ihm ein Normalindividuum von der Stange der vorgefertigten, im Voraus bekannten Sozialnormen zu machen, aufzugeben. Meiner Meinung nach stellt diese Vernormung der Individuen eine Idee von Gleichheit dar, die uns von der Demokratie entfernt. Die Eigenart ist eines Jeden Reichtum. Und ich würde sagen, dass dieser Reichtum eines Jeden den Reichtum der Demokratie darstellt. Sie sollte die Grundlage der Gesellschaft selbst darstellen. Die Eigenart eines Jeden ist für die Eigenart des Anderen unabdingbar, nur so wird sich dank des Ausdruckes der Eigenarten ein für das Entstehen komplexer, neuernder Beziehungen fruchtbarer Kulturraum eröffnen können. Nur in einem solchen politischen Rahmen wird die von allen unternommene Forschung das Bekannte (was wir wissen) zum Unbekannten (was wir wissen wollen) umschwingen lassen können. Dies ist wahrscheinlich eine ausgezeichnete Methode, um zu lernen, zu verstehen : uns selbst im Verständnis der Anderen zu verstehen. Wir müssen uns nur auf diesen Weg begeben.

Cristina Bertelli


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Les périphériques vous parlent, zuletzt bearbeitet am 3. Juli 03 von TMTM
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« Elle (la bureaucratie) se définit par le fait, qu'elle administre une ou plusieurs collectivités. (...) La conséquence évidente est que les administrés se trouvent dépouillés de tout pouvoir humain essentiel : celui de décider, de s'organiser euxmêmes, de choisir, de communiquer, etc. Ils sont réduits à être des „choses”: exécutants plus ou moins passifs, rouages dans une machine, instruments matériels. »

« La bureaucratie est elle-même une organisation. Elle est en effet excessivement hiérarchisée. Elle l'est tellement que les responsables sont toujours renvoyés à un supérieur hiérarchique et finalement à l'autorité supérieure, qui accuse toujours les instances inférieures lorsqu'il y a un dysfonctionnement quelconque. (...) Le fractionnement permet d'échapper aux accusations et aux mises in question : on peut toujours dire que c'est „l'autre”. »
 


« Nous sommes l'un des fruits d'une évolution qui dure depuis quinze milliards d'années. Mais il se trouve que nous faisons partie des générations qui vont décider du sens de cette évolution. D'ici cinquante ans, on saura si l'humanité est capable de gérer sa puissance. Il s'agit d'un chapitre inédit de l'histoire du monde, de l'histoire de la complexité. »
 


« (...) nous avons distingué deux structures opérationnellement indépendantes l'une de l'autre : l'être vivant et son environnement. Entre eux s'établit une congruence structurale indispensable (ou alors l'unité disparaît). Lors des interactions entre l'être vivant et son environnement au sein de cette congruence structurale, les perturbations de l'environnement ne déterminent pas ce qui survient à l'être vivant ; c'est plutôt la structure de l'être vivant qui détermine les changements qui s'y produisent. Cette interaction n'est pas de nature instructive, car elle ne détermine pas quels seront ses effets. D'où, notre usage de l'expression „déclencher un effet”. (...) Il en va de même pour l'environnement : l'être vivant est une source de perturbations et non pas d'instructions. »